Deutschland fehlen die Gründer. Zumindest im Vergleich zu China und den USA gibt es hierzulande zu wenige Einhörner. Damit bezeichnen Ökonomen erfolg- und aussichtsreiche Start-ups mit einer Marktbewertung vor dem Börsengang von über einer Milliarde Euro. Der Fahrdienst Uber oder der Bettenvermittler Air-bnb aus den USA zählen dazu. Von weltweit rund 240 Unicorns kommen nach Analyse des Wirtschaftsmagazins Capital lediglich fünf aus Deutschland. Immerhin strahlt das Hamburger Fashion-Unternehmen About You am hiesigen Unicorn-Himmel, nachdem die Rocket-Internet-Gründungen Delivery Hero, Home24 und Zalando halbwegs erfolgreich an die Börse gebracht wurden. Dabei stehen zahlreiche internationale Investoren in den Startlöchern und suchen nach dem nächsten deutschen oder europäischen Einhorn, in das sie investieren könnten. About-You-Gründer Tarek Müller antwortet auf die Frage, ob Deutschland die Gründer fehlten: „Es fehlt am Ambitionsniveau. Denn vor allem fehlt es an Gründern, die globale Unternehmen bauen wollen.“ Ist es die German Angst, das Sicherheitsstreben und eine Risikoaversion, dass die Risikobereitschaft in Deutschland geringer ausgeprägt scheint als im Rest der Welt?
Gründer brauchen Mut zur schöpferischen Zerstörung
Der KfW-Gründermonitor stellte 2018 wiederholt fest: „Gründungstätigkeit weiter im Tief“. Die Analysten machen dafür die gute Konjunktur und den Arbeitsmarkt verantwortlich. Dabei wären gerade jetzt die Chancen gut, ein europäisches Google oder wenigstens ein deutsches Amazon zu gründen. Immerhin geht es aufwärts mit der Zahl innovativer (+31 Prozent) und digitaler Gründer (+3 Prozent). Gleichzeitig sinkt die Zahl der Notgründer und die der Chancengründer steigt. Letztere sind ideengetrieben, innovativ und haben eine digitale Geschäftsidee. Vor allem von den innovativen und digitalen Gründern braucht das Land mehr. Denn sie sind die „schöpferischen Zerstörer“, von denen der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter 1912 in seiner „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ schrieb. Wie die Big Five aus dem Silicon Valley – Apple, Google, Microsoft, Facebook und Amazon – greifen solche Gründer etablierte Märkte an. Sie erschaffen gänzlich neue Produkte sowie Nachfrage und bringen dadurch den strukturellen Wandel voran. Dafür aber brauchen sie neben Ideen und Geld vor allem Mut, in großen Maßstäben zu denken.
Und der Mut dazu kommt heute nicht mehr von größenwahnsinnigen Hassadeuren, die Anfang des Jahrhunderts den Neuen Markt aufmischten. Vielmehr sind es Unternehmer wie Tarek Müller von About You oder auch Auto1-Gründer Hakan Koç und Christian Bertermann, die risikoaffin sind, global denken und Investoren wohl gerade wegen ihrer Risikobereitschaft magisch anziehen. Auto1 ist geradezu ein Paradebeispiel, wie Einhörner sich entwickeln. Erst 2012 gegründet, haben die Berliner Gebrauchtwagenhändler mit allen Regeln ihres Marktes gebrochen, sind voll ins Risiko gegangen. Und es hat sich gelohnt. Mittlerweile ist das Unternehmen mit fast drei Milliarden Euro bewertet. Es arbeitet in 30 Ländern mit seinen über 3.500 Mitarbeitern und erwirtschaftete 2017 mit 420.000 vermarkteten Gebrauchtwagen bereits einen Jahresumsatz von 2,2 Milliarden. Im Februar 2019 meldete das sonst schweigsame Einhorn, dass europaweit 55.000 Händler die Online-B2B-Plattform nutzen.
In der VUCA-Welt wird das Risikomanagement überlebenswichtig
Was aber zeichnet erfolgreiche Gründer aus? Ohne den Regelbruch ihrer Märkte, neue Ideen und ein digital getriebenes sowie auf einer Plattform schnell skalierbares Geschäftsmodell geht es in globalen Märkten wohl gar nicht mehr. Ein weiteres Attribut kommt hinzu. Es ist die Fähigkeit, mit Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit umzugehen und die daraus entstehenden Risiken tagesaktuell zu bewerten, zu handeln und diese damit kalkulierbar zu machen. Das neue Kunstwort dafür ist VUCA und steht für die englischen Begriffe Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity. In der digitalen VUCA-Welt ist das Risikomanagement ein zentraler Erfolgsfaktor, ohne das eine schnelle Entwicklung und Markteroberung unmöglich ist. Das gilt zunehmend auch für etablierte Unternehmen im deutschen Mittelstand, die in den letzten Jahren durch ihre technische Innovationsfähigkeit in vielen Nischen weltweit erfolgreich agierten. Aber unter VUCA-Bedingungen bleiben Unternehmen nur dann auf Erfolgs- und Wachstumskurs, wenn sie sich schnell auf Veränderungen einstellen können und so agieren, dass sie selbst neue Regeln setzen, bevor sie von Veränderungen ihrer Märkte überrollt werden.
Denn in allen Branchen stehen Wettbewerber vor der Tür, um angestammte Märkte mit neuen Regeln aufzumischen. Sie scheren sich wenig um Gesetze, schaffen Plattformen, auf denen sie die Rahmenbedingungen definieren, unter denen künftig gespielt wird. So besitzt Airbnb kein einziges Bett, vermittelt aber nach Informationen des Handelsblatts mehr Übernachtungen als die fünf größten Hotelketten der Welt zusammen. Der Fahrtdienst Uber besitzt kein einziges Auto, vermittelt aber täglich elf Millionen Fahrten. Auf der Handelsplattform Amazon wechseln täglich Waren für rund eine halbe Milliarde Dollar den Besitzer. Dabei werden 45 Prozent gar nicht mehr von Amazon, sondern von unabhängigen Händlern verkauft, die die Plattform nutzen. Diese Plattform-Ökonomie ist wohl auch das größte Risiko, das zunehmend auch viele Unternehmen im deutschen Mittelstand erkennen.
Auf der Gewinnerliste der Plattform-Ökonomie stehen amerikanische und chinesische Unternehmen ganz oben: Amazon, Microsoft, Alibaba, Ant Financial und Netflix. Die 60 größten Plattform-Unternehmen sind mittlerweile über sieben Billionen Dollar wert. Und: Die Top-10-Plattformen aus den USA gewinnen jedes Jahr etwa 19 Prozent an Wert hinzu. Die Top-10-Unternehmen im Deutschen Aktienindex legen nur etwa 10 Prozent im Jahr zu. Kurz definiert basiert die Plattform-Ökonomie auf einer technologischen Infrastruktur, um alle Marktteilnehmer in einem Ökosystem zu vernetzen. Es ist diese Konnektivität, die einen datengetriebenen Austausch von Waren, Dienstleistungen und vor allem Informationen organisiert. Vernetzte Unternehmen kooperieren auf digitalen Plattformen mit Kunden, Lieferanten und wenn es passt auch mit ihren Wettbewerbern. Auf ihren eigenen oder genutzten Plattformen treffen Angebot und Nachfrage aufeinander und ermöglichen den unmittelbaren Austausch, die Interaktion aller Akteure. Vor allem: An dieser Schnittstelle findet künftig die höchste Wertschöpfung statt.
Digitalisierung ist die Herausforderung für die deutsche Volkswirtschaft
Risikobereite Gründer wie die umstrittenen Samwer-Brüder vom Start-up-Inkubator Rocket Internet SE haben diese Mechanik der Plattform-Ökonomie verstanden. Sie kopieren zwar seit der Jahrtausendwende digitale Geschäftsmodelle, verkaufen sie oder bringen sie an die Börse. Aber sie sind damit erfolgreich, lassen sich von durchaus erlebten Rückschlägen und berechtigten Kritiken nicht vom Kurs abbringen. Sie ärgern als Regelbrecher die Wettbewerber ihrer Märkte, von E-Commerce mit Mode oder Lieferservices und mit Home24 auch mit Möbeln. Die drei Brüder, alle zwischen 1970 und 1975 geboren, sollen ein geschätztes Gesamtvermögen von drei Milliarden Euro angehäuft haben. Für ihr persönliches Fortkommen hat sich ihre Risikobereitschaft schon ausgezahlt. Aber auch für die deutsche Volkswirtschaft sind solche „Entrepreneure“ und „Rulebreaker“ gleich ein doppelter Gewinn.
Denn einerseits zeigen sie, dass es erfolgreiche Beispiele der Plattform-Ökonomie auch in angestaubten Märkten gibt. Zum anderen leisten sie einen Beitrag zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung mit digitalen Geschäftsmodellen, bevor Unternehmen aus China oder den USA sich den Markt untereinander aufteilen. Und letztlich schaffen sie neue Arbeitsplätze. An diesen Beispielen zeigt sich, dass eine starke, aber schwerfällige Volkswirtschaft wie in Deutschland insgesamt mehr Risiken eingehen muss, um im globalen Wettbewerb im 21. Jahrhundert zu bestehen. Denn entweder nimmt insbesondere der Mittelstand die Herausforderungen der Digitalisierung an und wird risikobereiter, oder er wird seine heute noch starke Position in den globalen Märkten verlieren.